Mittwoch, 28. März 2012

Der Moment der Wahrheit

Ristikallio-Hütte, am Morgen des 29.02.2012. Ort N 26° 24,0' E 029° 07,2'

Der erste Tourentag liegt nun hinter uns. Zuvor gab es aber noch Einiges zu klären:

Interessant. Aber nicht unsere Welt
Am Montagvormittag riefen wir bei Mark vom "Willis West" an, um uns von ihm Tourenski zu leihen. Seine Rückmeldung auf unsere ausrüstungsbedingten Gewichtsangaben (Ich 125kg, Gabi deutlich weniger) schockierte mich. Denn er empfahl uns für das umgespurte Gelände spezielle Tourenski mit einer Länge von 240cm (für Gabi) bis zu 260cm (für mich). Vor meinen Augen sah ich mich schon alle Gefälle geradeaus auf irgendwelche Hindernisse zurasen. Natürlich benötigen diese Ski auch spezielle Stiefel, unsere Salomon SNS Langlaufschuhe hätten wir in diesem Fall also unnötig mit nach Finnland geschleppt!

Um unser Dilemma etwas zu entspannen, empfahl Mark uns die Nutzung eines speziellen, Pulka-ähnlichen Schlittens, welcher mittels eines Gestänges hinterhergezogen wird und dank dieser starren Schleppeinrichtung auch bei starken Gefällen keine Überholversuche unternehmen soll. So richtig wussten wir nun erst einmal nicht mehr weiter. Also entschlossen wir uns, zusätzliche Informationen beim Besucherzentrum des Oulanga-Nationalparks einzuholen. Schon der erste Satz war klar: Bis dato waren in diesem Winter noch keine Skifahrer auf der Strecke gewesen. Alle Wanderer seien mit Schneeschuhen unterwegs. Da zudem ein stärkerer Wind mit Schneefall angesagt sei, wäre es überhaupt nicht sicher, ob die wenigen, eingelaufenen Spuren sich lange halten würden. Die zu erwartenden Schneehöhen könnten problemlos 150cm erreichen! Die Vorstellung, nach einem Ausritt mit den Ski aus diesen aussteigen zu müssen und dann bis zur Brust im Schnee zu versinken, kroch so ganz langsam mit Eiseskälte durch meine Hirnwindungen. Auch Gabi muss es ähnlich gegangen sein. Denn die Entscheidung, von Ski auf Schneeschuhe umzusteigen, dauerte nicht mehr besonders lange...

Nur konnten wir Mark nicht mehr über unsere Umplanung informieren. Denn mein Prepaid-Guthaben war im Rahmen der Telefonate erschöpft und Gabi fehlte für ihr Telefon die PIN! Also ging es an diesem 28.02. ein weiteres Mal nach Ruka. Dort erwarb ich eine finnische Prepaidkarte. Jetzt konnten wir Mark die neuen Pläne offenbaren. Trotz seiner Überraschung über unsere schnelle Umplanung hatte er innerhalb sehr kurzer Zeit eine Lösung für uns gefunden und versprach uns, bis zum folgenden Morgen ausreichend große (30") Schneeschuhe mit Stöcken über seinen Freund zu organisieren.





Den restlichen Nachmittag stromerten wir noch ein wenig durch den Ort, genossen die Aus- und Ansichten,

















überquerten unseren ersten zugefrorenen See,






fuhren mit dem Ski-Bus nach Hause und kochten uns dann am Abend total leckere Penne mit Lachs in Sahnesauce.

 



Daraufhin packten wir unsere Rucksäcke. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, das viele Essen für sieben Tage samt Küche und  Klamotten in den Rucksack zu zaubern.





Am folgenden Morgen standen wir um viertel vor neun bereits an der Haltestelle des Skibusses, der uns nach Ruka bringen sollte.



Kurz nach neun Uhr stellte Gabi dann die Frage der Fragen ("Fährt der Bus überhaupt?"). Und siehe da: Björn hatte sich ein wenig auf dem Busplan verlesen. Der erste Bus fuhr erst eine Stunde später. Angesichts der Tatsache, dass wir einerseits keine Lust mehr hatten, noch unnötig bis zehn Uhr die Zeit zu vertrödeln und andererseits Mark uns zu diesem Zeitpunkt  bereits im Motel Willis West erwartete, entschlossen wir uns, eine Autofahrerin auf dem Parkplatz um eine Mitfahrgelegenheit in den Ort anzusprechen. So kam es, dass wir bereits um kurz vor zehn Uhr bei Mark vor der Tür standen und bald darauf stolze Besitzer dieser so riesig anmutenden Schneeschuhe waren.

Es dauerte jedoch noch fast zwei Stunden, bis um 11:45 Uhr der Bus mit uns Richtung Salla abfuhr. Mit rasanten 100 km/h ging es auf teils vereister Landstraße zum Einstieg der Bärenrunde. Dort trafen wir zwei deutsche Frauen, die soeben die Bärenrunde in nördlicher Richtung beendet hatten und jetzt ruhig in der Eiseskälte standen und ihre Tee tranken. Von Frieren keinerlei Spur! Meine heimliche Bewunderung vor soviel Abhärtung war den Frauen sicher!





Wenige Minuten später fuhr der Bus mit den beiden neuen Fahrgästen in Richtung Norden davon. Wir hingegen standen jetzt vor dem Eingangstor zur Bärenrunde und rüsteten uns für den Weg. Dazu gehörte auch, eine Taktik zum Anziehen dieser, 76 cm großen, Schneeschuhe zu finden. Schon sehr bald war klar, dass gebückte Haltungen mit einem 33 kg schweren Rucksack auf dem Rücken keine gute Idee waren. Die Gesetze des Herrn Newton bestimmten zu heftig die Richtung einer unaufhaltbar beschleunigten Bewegung des Körpers - nach unten! Und - nach vorne!

Nach den ersten zehn Metern unserer Wanderung sahen uns mit dem ersten Hindernis konfrontiert. Vor unseren Augen fiel der Weg plötzlich steil in eine fünf Meter tiefe Senke ab. Während Gabi noch sehr elegant ihre frühkindlichen Erfahrungen nutzte und sich sitzend den Hang hinuntergleiten ließ, versuchte ich krampfhaft Haltung zu wahren. Zwar dauerte mein Abstieg dadurch ziemlich lang. Aber dafür war ich anschließend richtig stolz darauf, den Weg aufrecht gehend geschafft zu haben. OK, das Thema "Haltungsnoten" habe ich der Zensur unterworfen und möchte eigentlich auch eher ungerne darauf angesprochen werden...

Nach gerade mal 15 Metern weiteren Weges in der soeben erreichten Senke standen wir vor der Herausforderung Nummer zwei in Form eines steilen Anstieges. Zwar hatten wir die Wahl, mit ausgezogenen Schneeschuhen den Anstieg über eine stark zugeschneite Treppe zu bewältigen. Aber wir entschlossen uns für die "einfachere" Variante, verzichteten auf das Aus- und Anziehen unserer "Bigfoots" und marschierten querfeldein den "Berg" hinauf. Nach den ersten zwei Höhenmetern lag ich zum ersten Mal bäuchlings im Tiefschnee. Mir waren meine Füsse auf dem tiefen, trockenen, pulvrigen Untergrund einfach unter meinem Körper nach unten und somit auch nach hinten weggerutscht. Mittels quer gelegter Skistöcke ließ sich eine ausreichend druckfeste Handauflage für das erste Aufstehen einrichten. Der Aufstehversuch geland auf Anhieb. Mit etwas mehr Vorsicht gingen wir den nächsten Meter an. Dieses Mal lagen Gabi und ich fast gleichzeitig im Schnee. Das zweite Aufstehen ging schon deutlich schwerer, das Gewicht des Rucksackes fing an, ordentlich auf Arm und Bein zu drücken. Gabis erster Versuch sah gegen meinen zweiten "Aufsteher" richtig elegant aus, doch fiel uns gleich auf, dass einer Ihrer Stöcke danach viel zu leicht im Schnee versank. Der Grund war schnell gefunden. An diesem Stock fehlte plötzlich der aufgeschraubte Teller. Durch "sorgfältiges" Suchen ließ sich dieser Teller tatsächlich im Tiefschnee wieder auffinden. Allerdings können wir besten Gewissens behaupten, dass danach im Umfeld unserer Aufstiegszone kein Schneekristall mehr so auf dem anderen lag, wie es die Natur zuvor eingerichtet hatte. Im Rahmen der Suche hatte ich mich noch einmal auf die Nase gelegt und kam jetzt nur noch unter größter Anstrengung auf die Beine zurück. Schlagartig war uns klar, dass zukünftig unnötige Risiken zu vermeiden und die Ausrüstungsgegenstände vor Abmarsch immer zu überprüfen waren, wollten wir ähnliche Erfahrungen in die Vergangenheit verbannen.


Bald hatten wir uns an den Umgang mit den Schneeschuhen gewöhnt.

Bergauf und Bergab, durch kleine Sümpfe und über gefrorene Bäche führte uns der Weg langsam auf unser Tagesziel, die Ristikallio-Hütte, zu. Die Langsamkeit unseres
Vorankommens überraschte uns ein wenig. Nicht nur an diesem Tag, sondern auch auf den darauf folgenden Etappen erreichten wir im Schnitt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von selten mehr als zwei Stundenkilometern. Dazu trugen nicht nur das teils hügelige Gelände, der Anfangs erstaunlich tiefe Schnee und die mit 33 und 23 kg recht schweren Rucksäcke bei. Die Leistungsbereitschaft unserer Körper schien bereits bei den gefühlt noch mäßigen Temperaturen von ca. - 5° bis - 18° Celsius ein wenig eingeschränkt zu sein. Da wir aber keinen Zeitvorgaben unterlagen, nahmen wir diese Langsamkeit gerne an und genossen unseren Aufenthalt in der einsamen Schneelandschaft.

Vor unserer Ankunft in der Ristikallio-Hütte erwartete uns noch eine ganz besondere Herausforderung: Ein steiler Abstieg über gut zehn Meter auf einer total zugeschneiten und vereisten Treppe. Hier galt es, mal wieder neue Erfahrungen zu sammeln. Letztlich erreichten wir unser Ziel ohne Knochenbrüche und Bänderrisse. Haltungsnoten sind - wie schon erwähnt - der Zensur zum Opfer gefallen.


Die Ristikallio-Hütte ist ein älteres, kleines Blockhaus. Es liegt romantisch an dem Ufer eines in dieser Zeit zugefrorenen Sees. Wie auch in den folgenden Hütten ist der kleine Ofen der wichtigste Einrichtungsgegenstand. Diese
Öfen sind gerade groß genug, um eine Hütte bei entsprechend intensiver Befeuerung innerhalb einer aushaltbaren Zeit auf Temperaturen diesseits der Null Grad Marke auzuheizen. Die Ristikallio-Hütte war glücklicher Weise so klein, dass die Raumtemperatur irgendwann sogar ausreichte, um das Gebälk so zu erwärmen, dass es über Nacht als Wärmespeicher diente und sich das Aufstehen am Morgen recht angenehm gestaltete. Dennoch lernten wir  schnell, dass es sehr klug war, unmittelbar nach Erreichen der Hütten sowie morgens  sofort nach dem Aufstehen den Ofen anzufeuern.

Meine liebste Anzündtaktik sieht so aus: Ich baue mir einen kleinen "Scheiterhaufen" aus Anzündholz. In dessen Mitte entzünde ich ein kleines Stückchen Watte mit dem Feuerstahl und nähre das Feuerchen mit einem kleinen Streifen Birkenrinde, welche dann recht schnell das Anzündholz lichterloh brennen lässt. Auf dieses "Feuerchen" lege ich etwas größere Holzstücke, welche dann später größere Scheite zum Brennen bringen. Eine Methode, durch welche innerhalb einer Minute ein schön knisterndes und wärmendes Feuer im Ofen brennt.

Einfache Tische und Holzpritschen verschiedenster Anordnung stellen dann das restliche "Mobiliar" der Hütten. Abhängig von dem Alter der Hütten bekommt man etwas Außenlicht durch sehr großügige isolierverglaste Fenster (Ansakämppä und Jussinkämppä) oder halt eben, wie in der Ristikallio-Hütte, durch ein kleines Fensterchen, welches die innen stark verrauchten Hütte eher weniger zu erhellen vermag.

Im Außenbereich der Hütten, zwischen 50 und 100 Metern von diesen entfernt, liegt das "Ent- und Versorgungszentrum" (Plumpsklos und Holzlager). Die Entfernung ist einfach der Tatsache geschuldet, dass im Sommer der Geruch der Klos das Hüttenleben nicht beeinträchtigen soll. Im weniger geruchsempfindlichen Winter könnte zumindest das Klo ruhig ein wenig näher an der Hütte liegen. Denn wer fühlt sich schon dazu motiviert, bei Harndrang aus dem warmen Schlafsack zu klettern, Klamotten über zu werfen und dann den langen Weg durch die eisige Dunkelheit in die dunkle eisige Holzkabine aufzunehmen. Wie sehr sich das Wahrnehmungsvermögen im Winter verändern kann, zeigt sich an der Dankbarkeit, mit der die "modernen" Klobrillen aus warmem Styropor angenommen werden... Dennoch mutmaße ich, dass viele spätere Nierenkoliken der Winterwanderer der Tatsache zugeschrieben werden können, dass gerade die nächtlichen Toilettengänge mit allen Mitteln der Selbstdisziplierung auf ein Minimum reduziert werden. Andererseits haben nicht wenige Männer für sich eine sehr fragwürdige Lösung gefunden: Sie gehen aus der Hütte raus, machen noch ein bis zwei Schritte auf dem Versorgungsweg und entleeren sich dann mitten im Sichtfeld des Weges und meist auch noch des Hütteneinganges. Im Gegensatz zu ähnlich handelnden Haustieren bei ihrem Gassi-Gang durch die Nachbarschaft neigen sie allerdings nicht dazu, ihre ab sofort über Wochen im Schnee sichtbare Pipi-Stelle zu verschließen, um so zumindest die Optik wieder in Ordnung zu bringen.

Dieses Verhalten hat jedoch noch ganz andere Auswirkungen, an die der deutsche Normalbürger beim Kochen seines Frühstückskaffees überhaupt nicht denken möchte:









Fließendes Wasser gibt es bei Temperaturen weit unterhalb des Gefrierpunktes nicht. Also wird dasTrinkwasser aus aufgetautem Schnee gewonnen. Dafür muss man mit einem siebten Sinn versuchen, die Stellen herauszufinden, an denen "weißer" Schnee zu ernten ist. Auch wir mussten irgendwann mal feststellen, dass es Männer gibt, die mit viel Fantasie Orte markieren... Nicht umsonst gibt es im hohen Norden Spezialisten, die sich den Schnee mit Müllbeuteln mitten von den zugefrorenen Seen holen, wo keine Spuren darauf hinweisen, dass vielleicht doch schon mal... Auf gut deutsch: "Gelb-Grüner Schnee" war tatsächlich eines der dominierenden Themen unserer "Küchengespräche".

Ansonsten zeigte sich die Ristikallio-Hütte für uns zwei gerade groß genug. Immerhin galt es, die Ordnung der Rucksäcke den Bedürfnissen unseres täglichen Lebens anzupassen. Dieser Anpassungsversuch bedeutete für uns, dass wir am ersten Abend (und auch noch am zweiten) unsere Mitbringsel auf einer riesigen Fläche ausbreiteten, um dann in erneute Packversuchen die Rucksackinvasitivität für den nächsten Aufenthalt minimieren zu können.





Ach ja, natürlich haben wir uns ordentlich im Holzmachen geübt und Zeit für's Reisetagebuch fand sich immer in der Gemütlichkeit unseres Hüttenlebens.





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